What if we drown Read online

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  »Um Gottes willen, hast du den ganzen CN Tower eingepackt?«

  Die Hitze stieg mir in die Wangen. Tatsächlich hatte ich die erlaubten dreiundzwanzig Kilogramm pro Gepäckstück bis aufs Äußerste ausgereizt. Nun kam es mir fast lächerlich vor, wie viel ich besaß, dass es drei Menschen brauchte, um meine Koffer ins Haus zu schaffen.

  »Stell dich nicht so an«, wies Hope ihren Mitbewohner zurecht, doch auch ihre Stimme klang gepresst, während sie mir mit dem zweiten Koffer half.

  »Wie um alles in der Welt hast du das überhaupt allein hierher transportiert? «

  »Gepäckwagen am Flughafen und überzeugendes Trinkgeld für den Taxifahrer.« Ich keuchte.

  »Na, hoffentlich hast du auch ein überzeugendes Trinkgeld für uns.«

  »Emmett!« Hope schüttelte den Kopf. »Sei nicht so.«

  »Ein Obstkorb täte es auch.« Er lachte leise.

  »Soll ich die Schuhe ausziehen?«, fragte ich aus einem Reflex antrainierter Höflichkeit, sobald ich wieder auf der Veranda angekommen war.

  Hope stieß die Luft aus. »Ach Unsinn. Fühl dich ganz wie zu Hause.«

  »Ja, Hope putzt dir dann liebend gern hinterher.« Emmett funkelte sie an.

  »Hey, ich habe erst letzten Sonntag gewischt!«

  »Nachdem du euren halben Bauernhof im Flur verteilt hast, war das auch mehr als nötig. Nächstes Mal bleiben deine Stallschuhe draußen.«

  »Was soll das? Farmkind-Shaming ist nicht okay.« Hope grinste. Dann wandte sie sich mir zu. »Meine Familie hat einen Hof, draußen auf dem Land. Ich bin oft am Wochenende dort, um ihnen zu helfen.«

  »Das ist ja cool.«

  »Ja, total …«, grummelte Emmett, doch seine Mundwinkel zuckten. »Sie versucht mich immer noch zu überreden, Hühner im Garten zu halten.«

  »Das wäre doch mega! Und ein richtiger Game Changer für unser Airbnb-Inserat. Stell dir vor, wir könnten den Leuten dann unsere eigenen frischen Eier anbieten.« Hope kicherte. »Laurie, du hättest sicher keine Sekunde gezögert, wenn das mit im Angebot gestanden hätte, nicht wahr?«

  »Ich habe auch so keine Sekunde gezögert.«

  Emmett lachte. »Du weißt genau, was Hope hören will. «

  »Das heißt, du bist Team Hühner, richtig?«, sagte Hope zu mir und wandte sich wieder an Emmett. »Vielleicht bringe ich nächsten Sonntag einfach ein paar von zu Hause mit.«

  »Ja, großartig. Ich weiß jetzt schon, wer sich dann um sie kümmern darf, wenn du jedes Wochenende abhaust.«

  Ich musste lächeln. Während die beiden sich weiter einen verbalen Schlagabtausch lieferten, streifte ich meine Sneakers ab. Ein Zuhause war erst ein Zuhause, wenn man es auf Socken betrat.

  »Also, Laurie, was führt dich her? Fängst du an der UBC an?«

  Ich nickte, während Emmett die Tür hinter mir schloss. »Ja, mit Medizin.«

  »Oh, wow!« Emmett wirkte nicht minder beeindruckt als ungefähr jeder, dem ich bislang meine Pläne verraten hatte. Auch Hope sah mich voller Bewunderung an. Eine Bewunderung, die ich nicht verdiente, schließlich stand ich ganz am Anfang meiner Ausbildung und hatte keinen blassen Schimmer, ob ich das Studium überhaupt bewältigen würde. Und ob es wirklich das war, was ich wollte.

  »Ist es tatsächlich so hart, einen Studienplatz zu bekommen?«

  »Einfach war es nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe erst meinen Undergrad-Abschluss in Toronto gemacht und mich nebenbei auf die Zulassungstests und Auswahlgespräche vorbereitet.«

  »Heftig«, murmelte Hope.

  »Und ich dachte, Architektur wäre hart«, meinte Emmett.

  »Machst du das?«, fragte ich ihn.

  Er nickte, und ein stolzes Funkeln trat in seine dunklen Augen. »Es ist stressig, aber ich liebe es mehr als alles andere.«

  Unwillkürlich musste ich lächeln. Nichts war inspirierender, als Menschen über etwas sprechen zu hören, das sie begeisterte. Sie waren dann schöner. Leuchtende Augen, lebhafte Gesten. Wie Austin, wenn er über seinen großen Traum gesprochen hatte.

  »Kurz vor den Projektabgaben kriegt man ihn tagelang nicht mehr zu Gesicht.« Hope grinste, und ich war ihr dankbar, dass sie mich davor bewahrte, in meiner Gedankenspirale zu versinken.

  »Studierst du auch?«

  Sie nickte. »Ja, Kreatives Schreiben und im Nebenfach Botanik.«

  »Das ist … eine interessante Kombination.«

  »Ich liebe Pflanzen und Geschichten«, erklärte sie. »Aber gut, du bist sicher erledigt von der langen Reise. Magst du was trinken? Emmett bringt dir bestimmt deine Sachen aufs Zimmer. Nicht wahr, Em?« Hope blitzte auffordernd in seine Richtung.

  »Oh ja, das macht Emmett gern«, säuselte er und duckte sich unter dem kleinen Boxer weg, den Hope ihm gegen den Oberarm verpassen wollte. »Aber vielleicht zeig ich Laurie lieber erst ihr Zimmer«, erklärte er, und noch bevor ich mich überhaupt richtig umsehen konnte, spürte ich seine flache Hand zwischen meinen Schulterblättern. Emmett schob mich zu einer Treppe, die links von uns um eine Ecke nach oben führte. »Nicht dass sie gar nicht erst einziehen will und ich dann schon alles hochgeschleppt habe …«

  Ich sah noch, wie Hope mit den Augen rollte und hinter einem frei stehenden Tresen in die offene Küche verschwand. Bereits am Fuße der mit weichem elfenbeinfarbenem Teppich belegten Treppe begann Emmett seine Hausführung.

  »Also, dein Zimmer ist im Obergeschoss, genauso wie das von Hope. Ein ganzes Stockwerk nur für euch. Fantastisch, nicht wahr? Ich armer Schlucker dagegen habe hier im Haus nichts zu sagen und muss mit den Waschbären unten im Keller wohnen.«

  Ich grinste. »Waschbären habt ihr also, aber bei Hühnern stellst du dich quer?«

  »Emmett, ich bitte dich.« Hopes Stimme drang aus der Küche zu uns. »Dein Zimmer ist so groß wie unsere beiden zusammen, und außerdem hast du direkten Zugang zum Garten.«

  »Na gut, stimmt schon, ich kann mich nicht beklagen«, meinte Emmett vergnügt. »Wo war ich stehen geblieben?« Er tippte sich kurz mit der Spitze seines Zeigefingers gegen die Nase und sah sich um. »Also, das Leben spielt sich hauptsächlich hier unten ab. Wir sind keine reine Zweck-WG, wie du vielleicht schon bemerkt hast. Wir können uns auch ganz gut leiden.«

  »Na ja …«, rief Hope von irgendwoher.

  Emmett lachte. »Nein, echt, wir kochen oft zusammen oder sitzen bei einem Glas Wein hier unten. Gern auch zu dritt, wenn du magst.«

  »Aber wenn du lieber deine Ruhe haben möchtest und etwas Privatsphäre bevorzugst, ist das natürlich auch völlig in Ordnung«, hörte ich Hope sagen. »Nicht wahr, Emmett?«

  »Absolut.« Er wies mit einer ausladenden Geste um sich. »Also, hier ist unser Wohnzimmer, die Küche steht dir offen, und du kannst natürlich jederzeit auf die Veranda oder in den Garten.«

  Ich brachte nur ein Nicken zustande. Der Anblick hatte mich völlig eingenommen. Durch die großen Fensterfronten des lichtdurchfluteten Raums bot sich eine einmalige Aussicht. Über die tiefer liegenden Hausdächer hinweg konnte ich bis zur Skyline von Vancouver sehen. Umrahmt von den dunkelblauen Ausläufern des Pazifiks, lag sie golden angestrahlt vor einer Reihe wilder Berggipfel. Die Großstadt inmitten einer Kulisse aus Bergen und Meer raubte mir für einen Moment den Atem.

  »Wow«, murmelte ich, und zum ersten Mal seit meiner Ankunft war auch Emmett beinahe andächtig still. »Was für eine Aussicht.«

  »In diesem Viertel hast du einen der besten Blicke auf die Stadt.«

  »Es ist unfassbar schön«, meinte ich. Dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Innere des Hauses. Ein dunkelgraues Sofa stand zu unserer Linken vor der Glasfront, die Zugang auf die breite Veranda bot. Mein Blick wanderte zu einem großen Holztisch mit zusammengewürfelten Stühlen vor dem Tresen, der die offene Küche vom Rest des Raumes trennte. Der Kühlschrank war gigantisch. Von einer so großzügigen Küche hatte ich im Wohnheim nur träumen können. Mein Blick streifte Hope, die gerade in Windeseile benutzte Teller und Gläser in den Geschirrspüler räumte, so als wollte sie verhindern, dass ich das Chaos bemerkte.

  Rasch folgte ich Emmett die Treppe hinauf.

  »Hier rech
ts ist Hopes Zimmer«, erklärte er und wies zu einer offen stehenden Tür, durch die ich einen kurzen Blick in ihr Reich erhaschte. Es glich einem urbanen Dschungel. Selten hatte ich so viele sattgrüne Palmen und andere Zimmerpflanzen auf einem Fleck gesehen. Hopes Nebenfach wunderte mich nicht länger. Zwischen all den Pflanzen entdeckte ich helle Möbel, ein Bett mit Dutzenden Kissen und ein wandfüllendes Regal voller Bücher, die akkurat nach den Farben des Regenbogens sortiert waren. »Und das hier ist dein Zimmer.«

  Ich folgte Emmett zu der Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Wir traten in einen Raum, dessen Wände zu einem Großteil aus Fenstern bestanden. Perplex blieb ich stehen. Zwar hatte ich online Fotos von dem Zimmer gesehen, doch auf denen hatten die cremefarbenen Vorhänge die Aussicht über die Stadt größtenteils verdeckt. Ein Stockwerk höher als eben im Wohnzimmer, bot sich ein noch besserer Blick über die idyllisch gelegenen Vororte bis nach Downtown. Es war … einfach wunderschön.

  »Wir vermieten das Zimmer erst seit Kurzem«, riss mich Emmetts Stimme aus meiner stillen Bewunderung. Ich nickte und zwang mich, ihm zuzuhören. Es fiel mir denkbar schwer. »Wir waren eine Dreier-WG, aber jetzt steht das Zimmer leer und wir hatten noch keine Zeit, es besonders einzurichten. Es müsste aber eigentlich alles da sein, was man zum Überleben braucht. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass die Möblierung noch etwas spartanisch ist.«

  Ich hätte nicht gewusst, was ich hier vermissen sollte. An einer Seite des Raums stand ein breites Bett, ihm gegenüber ein einfacher Schreibtisch aus hellem Holz mit passendem Korbstuhl und daneben ein leeres Regal. Entlang der gesamten Stirnseite erstreckte sich ein schmaler Balkon, der mit einem winzigen Klapptisch samt Stühlen möbliert war.

  »Das Bad und der Einbauschrank sind hier.« Emmett deutete um eine Ecke.

  »Ich liebe es«, entfuhr es mir, und Emmett lachte.

  »Wie schön, dass deine Ansprüche nicht sonderlich hoch sind.«

  »Ich bitte dich …« Mit einem Arm machte ich eine ausholende Bewegung. »Wird man für diese Aussicht blind, wenn man nur lange genug hier lebt?«

  »Nein, da kann ich dich beruhigen, definitiv nicht.« Emmett sah nun ebenfalls nach draußen, und etwas Nachdenkliches trat in seinen Blick. »Aber du würdest dich wundern, was manchen Gästen so einfällt. Wo ist der Föhn? Warum gibt es keinen Safe? Die Vorhänge dunkeln den Raum nicht ausreichend ab. Und überhaupt, sind die Bettlaken auch wirklich frisch gewaschen?«

  »Du meine Güte.« Ich musste grinsen. »Nein, wirklich, es ist ein wahr gewordener Traum.«

  »Perfekt.« Emmett strahlte. »Dann lass uns deine Sachen holen.«

  Bevor ich auch nur die Chance hatte zu antworten, hatte er sich schon umgedreht. Ich warf meinen Rucksack aufs Bett, ehe ich ihm folgte.

  Wenig später hatten wir das Gepäck in mein Zimmer gebracht, und eine seltsame Melancholie überfiel mich, als mir bewusst wurde, dass das gerade wirklich der Beginn meines neuen Lebens war. Hope und Emmett reagierten verständnisvoll, als ich mich kurz darauf in mein Zimmer zurückzog. Ich musste dringend duschen und dann den Schlaf der letzten Nacht nachholen, in der ich vor lauter Aufregung kaum ein Auge zugetan hatte.

  »Du weißt ja«, sagte Emmett noch, während ich nach oben ging, »der erste Traum in einer neuen Wohnung geht in Erfüllung.«

  »Ach ja?«

  »Absolut. Hope, weißt du noch, wie ich in meiner ersten Nacht hier geträumt habe, dass alle um mein preisgekröntes Modell für den Pritzker-Preis herumstehen?«

  »Dafür bräuchtest du erst mal ein Modell für den Pritzker-Preis«, gab Hope ungerührt zurück.

  »Ja, warte ab. Spätestens nächstes Semester …«

  Ich unterdrückte ein Grinsen, und Hope bedeutete mir mit einer raschen Handbewegung, dass ich nun besser meine Chance ergriff und zusah, dass ich wegkam. Während Emmett aufgeregt gestikulierend an der Theke lehnte, huschte ich hinauf.

  Meine besockten Füße versanken im weichen Teppich. Hatte ich nur deshalb das Gefühl, wie auf Watte zu gehen, oder lag es an meiner Müdigkeit? Emmetts Stimme wurde leiser, die Stille in meinem Kopf lauter, sobald ich durch die Tür in mein Zimmer trat.

  Die Koffer standen neben dem Bett, aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, jetzt noch auszupacken. Mit einem leisen Seufzen fiel ich auf die Matratze.

  Unfassbar, dass ich gestern um diese Zeit noch mit Amber auf dem Fußboden des Wohnheimzimmers gesessen und meinen ganzen Besitz hektisch und planlos in die Koffer gestopft hatte. Dieser Schritt in ein neues Leben war das Beängstigendste, was ich seit Langem getan hatte. Bis zuletzt ertrug ich die bevorstehende Veränderung nur, indem ich jeden Gedanken daran verdrängte. Damit war jetzt Schluss. Ich würde wieder im Hier und Jetzt leben, nicht länger im Was-wäre-wenn.

  Vor sieben Stunden war ich in dieses Flugzeug auf dem Weg ins Ungewisse gestiegen.

  Ich hatte nichts mehr zu verlieren gehabt.

  3. KAPITEL

  Dunkelheit, Licht, es war von gleißender Helligkeit. Die Stimmen lachten, ausgelassen und grölend. Fröhliche Gesichter verwandelten sich in hässliche Fratzen, die mich verhöhnten. Glas traf auf Glas, die Nacht erzitterte klirrend und rief mir zu, ich solle besser das Weite suchen. Und das so schnell ich konnte.

  Irgendwo zwischen all den Betrunkenen musste er sein. Diesmal musste ich es schaffen. Rechtzeitig, nur dieses eine Mal …

  Ich rannte durch die beißende Kälte, rempelte gegen taumelnde Körper, entschuldigte mich, nur um im gleichen Atemzug zu fragen, ob ihn jemand gesehen habe. Austin. Austin war sein Name, einen Kopf größer, vier Jahre älter als ich. Blaue Augen, dunkelblonde Haare. Doch keiner hatte ihn gesehen. Niemand. Nie wusste jemand etwas, und ich lief weiter. Schrie seinen Namen in die Nacht, er musste hier sein, irgendwo, und wenn ich ihn nicht fand, dann war es zu spät. Dann war alles verloren, schon wieder, für immer. Mein Herz raste, Übelkeit stieg in mir hoch. Ich schmeckte die Galle bereits auf der Zunge. Sie vermischte sich mit seinem Namen. Austin …

  Die Stimmen um mich herum wurden panisch, Hektik lag in der Luft. Schreie, ich hörte sie entfernt, wurde von ihnen angezogen wie eine Motte von den diesigen Lichtkegeln, die ihre Handylampen suchend auf die schneebedeckten Wiesen des Campus warfen. Sie standen da, zu Dutzenden, schwankend, hielten sich aneinander fest. Niemand tat etwas.

  Die Beine drohten mir zu versagen. Die Panik schnitt jegliche Verbindung zu meinen Gefühlen ab. Es war wohl besser so.

  Meine Schulter stieß schmerzhaft gegen die Hausecke. Ich blieb stehen, so abrupt, dass ich mich kaum aufrecht halten konnte. Handylichter, kalt und hart, sie zuckten über den Körper, der am Boden lag. Kopf zur Wand. Reglos.

  Jemand schrie. Und wie jedes Mal war ich es. Wie jedes verdammte Mal

  war

  ich

  zu

  spät.

  Nein …

  Nein, nicht schon wieder. Herrgott, bitte nicht .

  Ich fuhr aus dem Schlaf und rang nach Atem. Himmel …

  Das Herz raste in meiner Brust, schlug mir gegen die Rippen wie ein wild gewordenes Tier. Als wollte es endlich entkommen. Doch die Gitterstäbe gaben nicht nach.

  Tränen stiegen mir in die Augen, ohne dass ich es verhindern konnte. Zitternd stützte ich mich auf den Ellbogen, versank in einem der Kissen. Mit den Fingerspitzen fuhr ich mir über die feuchte Stirn. Schweißtropfen liefen mir über die Schläfen, verfingen sich in meinen Wimpern und brannten in den Augen. Vielleicht waren es auch die Tränen. Hektisch schnappte ich nach Luft.

  Okay, Laurie. Es war nur ein Traum. Ein dummer, bescheuerter Traum. Der gleiche wie immer. Wir kennen es doch. Es hat nichts zu bedeuten. Es war nicht real. Das war nur meine Fantasie, die mir einen Streich gespielt hat. Mein unfähiges Gehirn. Wie immer, wenn neue Eindrücke auf mich einstürzten, mich ablenkten, krochen die schmerzhaften Erinnerungen aus allen Ecken. Dort, wo ich nur spekulieren, nur mutmaßen konnte, produzierte mein Kopf die grausamsten Bilder. Sie weckten Gefühle, so beißend und echt, wie ich sie schon lang nicht mehr gespürt hatte. Als wollten sie mir sagen: Hey, ich bin noch da. Du kannst fortgehen, so weit du willst. Ans andere Ende d
es Landes. Bis an einen anderen Ozean. Ich werde dich dort finden. Ich werde dich immer finden. Dachtest du wirklich, es wäre so leicht?

  Ich presste die Lider aufeinander. Zur Hölle … Meine Augen brannten wie Feuer, doch ich wollte nicht weinen. Nicht wegen eines dummen Traumes, der nicht von Bedeutung war. Nicht wegen dieses Horrors, der Jahre zurücklag. Ich durfte den Emotionen keinen Raum geben. Sie würden ihn nicht zurückbringen. Gegen sie anatmen, sie dorthin verbannen, wo sie hergekommen waren. Aus dieser dunklen, kleinen Ecke meines Gehirns, die ich beinahe vergessen hatte. Beinahe … Die ich irgendwann vielleicht ganz vergessen würde.

  Ich vergrub das Gesicht in einem der Kissen. Die Decke klebte an mir, doch allmählich wich die Hitze aus meinem Körper. Zurück blieb nichts als Leere.

  Seit Wochen hatte ich nicht mehr davon geträumt, und ein naiver Teil meines Verstandes hatte Hoffnung geschöpft. Hoffnung, dass ich es geschafft hatte. Dass das Schlimmste vorüber war. Dass drei Jahre und sechs Monate ausreichten, um es zu verarbeiten. Als ich den Kopf wandte und die Augen wieder aufschlug, verschwamm die Welt um mich herum. Sie reichten nicht aus.

  Eine Zeit lang lag ich nur da. Zwang mich, gleichmäßig zu atmen, auf meinen Herzschlag zu achten. Darauf, wie er sich beruhigte und endlich langsamer wurde. Drei Jahre und sechs Monate reichten nicht aus, um ein schreckliches Erlebnis zu vergessen, aber sie reichten, um sich daran zu gewöhnen. An die Panik und Furcht, die in den unpassendsten Momenten in mir heraufkroch und mich in die Knie zwang. Inzwischen blieb ich stehen. Zumindest meistens. So schlimm wie eben war es lange nicht mehr gewesen. Und das war gut. Das war ein Fortschritt. Das war es doch, nicht wahr?